Wach in diesem Körper

Nun, Bodhisattvas aller Länder, was meint Ihr dazu?
Die vielbeschworene „Erleuchtung“, das „Große Tor“, durch das die tapferen Schülerinnen und Schüler des Zen bestrebt sind, hindurchgleiten, den feurigen Eisenball locker im Mund jonglierend – immer noch nicht genug?

Interessanterweise fällt es uns leichter, Erwachen zu denken als es zu verkörpern. Vielmehr: als uns seiner Verkörperung in unserer Form bewusst zu sein und sie zu leben.

Das ist erstaunlich, denn unser Körper befindet sich immer im gegenwärtigen Augenblick. Bei der Vorstellung vom vielbeschriebenen Erwachen denken wir meistens zuerst an unseren Kopf, an das erste Chakra, an das dritte Auge.
Unser Geist hat aber die liebenswerte Angewohnheit, ständig auf Wanderschaft zu gehen. Dennoch versuchen wir mit unerschütterlichem Vertrauen, uns denkend in den jeweiligen Moment zurückzubewegen, uns unser grandioses Erwachen für ein „Dereinst“ vorzustellen, es uns auszumalen, uns darüber in vielen Varianten zu belesen.

Wir sitzen in Zazen, wir sind ruhig und aufmerksam. Wir atmen, wir lassen atmen, wir lassen uns harmonisieren, da ist eine Weile Stille – bis sich etwas bewegt. Innerlich oder äußerlich. Wir werden abgelenkt, wir schweifen ab. Irgendwann bemerken wir dies.
Der erste Ort, zu dem wir dann reisen, ist unser Kopf. Wir denken: oh, zerstreut. Vielleicht seufzen wir ein wenig über uns.
Dann bringen wir uns denkend in die Gegenwart zurück. Das ist nicht falsch, aber es ist auch: ein beträchtlicher Umweg. Dieser birgt das Risiko, dass wir etwas verpassen, das von hohem spirituellen Wert ist: die Weisheit unseres Körpers. Sie ist immer schon da und sie steht uns lebenslang beständig zur Verfügung. Wir können ihr vertrauen und uns in sie zurückfallen lassen. Dann werden wir nicht nur etwas erfahren, das unsere Ahnen des Mahayana mit dem „Nirmanakaya“ bezeichneten (den Körper, wie wir ihn sehen), sondern uns auch dem „Sambogakaya“ nähern (dem Körper, wie wir ihn spüren). Was gleichbedeutend mit dem unmittelbaren Erleben unserer Wirklichkeit ist.

Die Zenpraxis ist ideal, um den Körper führen zu lassen. Erwachen findet mindestens genauso in und durch unseren Körper statt. Ein Zen-Mensch bewohnt seinen Körper bis in die letzte Ecke. Diese Präsenz hat heilsame Auswirkungen auf unsere Mitmenschen. Wir müssen dafür nichts „tun“. Diese, unsere Form, so jung oder alt, so hübsch oder weniger hübsch sie sich für uns anfühlen mag – ist einzigartig. Die Welt hat sie uns, die Welt hat sie sich, geschenkt. Je mehr wir über sie hinwegsehen, dissoziieren, sie leugnen, quälen oder beständig kritisieren, umso weiter entfernen wir uns von „Buddha“. Je mehr Tage innerer Bewohnbarkeit wir leben, umso mehr nähern wir uns unserem Zuhause, geistig und körperlich. Dafür müssen wir nicht denken, nicht wissen, nicht können. Nur spüren, nur sein.

Diesem Körper schrittweise immer mehr zu vertrauen, bedeutet, meiner Erfahrungswelt immer mehr zu vertrauen. Meiner Erfahrungswelt immer mehr zu vertrauen, bis hin zur zellulären Ebene, bedeutet, meinem Verbundensein immer mehr zu vertrauen. Eine andere Annäherung an diese urmenschliche Qualität und immerwährende Sehnsucht kann mit Erwachen, mit verkörpertem Erwachen, beschrieben werden.

Dieses eine, wilde, kostbare Leben. Was tust Du damit?
Mary Oliver

Gassho, Juen


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