Groß ist das Gewand der Freiheit I

Vor kurzem haben wir uns, anlässlich unseres Themas „Gelöbnis“ über den „Vers des Kesa“ ausgetauscht.

Wie groß ist das Gewand der Freiheit
Ein Feld des Glücks jenseits aller Formen
Nun trage ich des Tathagatas Lehre
Um alle Wesen zu befreien.


Seit Meister Dogen aus China zurückkehrte, wird dieser Vers in den Soto Zen-Klöstern rezitiert. Dogen schildert in einem Kapitel des Shobogenzo, wie tief ihn dieses Ritual beeindruckt hat. Was kann uns diese Tradition 800 Jahre später sagen?

Die Robe diente zur Zeit der Entstehung der Gefolgschaft Buddhas als Erkennungsmerkmal. Der Legende nach sah der Buddha in der Gegend von Magadha Reisfelder und bat Ananda, ein Tuch nach diesem Muster zu entwerfen.
Das Gewand der Befreiung wird heute aus einem intakten, hübschen Stoffballen gewonnen, indem wir es in viele kleine Stücke schneiden. Damals sammelten die Mönche Stoffreste, vorzugsweise getragene, und färbten sie in gedeckten Farben. Dabei spielte es keine Rolle, ob das Tuch zuvor einem Kranken, einem Verstorbenen oder einem Kastenlosen gehört hatte – für die damalige Zeit so mutig wie ungewöhnlich.

So ist auch der Faden sozialer Gerechtigkeit über die Jahrtausende hinweg bis zu uns gewandert. Er verbindet, wie verpflichtet uns: hin zu gemeinsamer, geteilter Freiheit.
Die Teile des Kesa kamen von überall her. Sie bleiben bis heute noch eine Weile bestehen in Form des neuen Gewandes – bis auch dieses verschlissen sein wird und den Elementen anheimfällt. Somit ist in das Kesa der Faden der Vergänglichkeit gewirkt – Form gewordene Manifestation unseres eigenen Schicksals. Doch hat Wandel und Veränderung nicht auch etwas Befreiendes?

Wozu dann noch festhalten, wenn die Dinge uns ohnehin aus der Hand genommen werden? Warum nicht „die Faust öffnen“ und spüren, dass nahezu alles, was wir brauchen, uns gegeben wird? (Insofern wir nicht in einem Kriegsgebiet leben und unsere elementaren Grundbedürfnisse erfüllt werden können.)

Unser Gewand als verdienstvolles Feld. Für Zen-Praktizierende gilt mit zunehmender Tiefe der Übung: wenn wir etwas geschenkt bekommen, möchten wir es weitergeben. Das ist das „Feld des Glücks“. Es ist nicht beschreibbar, da nur erfahrbar und hat keine feste Form. Insofern ist das Kesa ein Symbol für unser Feld des Lebens, für das, was wir darin ausdrücken und verwirklichen möchten. Es hat zudem nicht nur eine Form, sondern 108 Arme, Augen und Hände, 109 tägliche Möglichkeiten zu üben, zu geben und weiterzureichen. Unser Gewand als Symbol unseres Lebensfeldes. Inwiefern wir es zu einem „Feld des Glücks jenseits aller Formen“ erblühen lassen, ist ganz bei uns, im herannahenden Frühling wie zu Winterzeiten.

Gassho, Juen

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